Wenn man die Fußsohlen eines auf dem Rücken liegenden Menschen
mit einem Gegenstand (Brett, Rolle, Draht, ...) berührt,
weckt man in seinem Nervensystem sein Stehverhaltensmuster,
das aus dem phylogenetischen und dem persönlichen,
durch die eigene Geschichte geformten Muster besteht,
in einem Kontext, der die Stehfunktion nicht erfordert.
Durch die Berührung mit dem, wie Feldenkrais ihn nannte,
"künstlichen Fußboden", wird also der Richt-Reflex wachgerufen,
bei dem eine reflexartige Anspannung der Nackenmuskulatur entsteht,
die ihrerseits die ganze der Stehfunktion dienende Muskulatur aktiviert.
Die Person reagiert auf diesen Reiz mit dem ganzen Repertoire
an überhöhten und überflüssigen Muskelspannungen,
das sie beim tatsächlichen Stehen einsetzen würde:
Die Nackenmuskeln sind für gewöhnlich viel gespannter als dies nötig wäre,
nicht minder die Bauch-, Schulter-, Rücken- und Beinmuskulatur.
Dies sind alles kompensatorische Muskelspannungen in Verbindung mit einer
nicht angemessen ausgeführten Funktion (hier dem Liegen) und die
ihrerseits andere kompensatorische Muskelspannungen (wie z.B. Brustmuskelkontraktion) hervorrufen.
Im Liegen sind die Stimuli ausgeschaltet,
die diese antigravitationalen Reaktionen und Muster aktivieren.
Leider nimmt das Nervensystem des geplagten Menschen diese Tatsache nicht wahr
und so liegt der Mensch mit mehr oder weniger gebeugten Knien, betontem Hohlkreuz,
gehobenen Schultern und mit gespannten Nackenmuskeln.
Durch das Ausschalten der Stimuli bietet der Liegezustand die besten Bedingungen,
um überflüssige Reaktionen bewusst zu machen und bewusst auszuschalten,
da dadurch das Nervensystem zu einer maximalen kinästhetischen Wahrnehmung befähigt wird.
Die Aktivierung des Stehverhaltens im Liegen mit Hilfe des künstlichen Fußbodens
koppelt die Funktion des Stehens von ihrer Ausübung ab.
Die "persönlichen" parasitären Begleitmuster, die die Stehfunktion beeinträchtigen,
werden beim tatsächlichen Stehen nicht wahrgenommen, weil sie zu einem integralen Bestandteil des
Stehverhaltensmusters geworden sind.
Das Liegen ermöglicht zum ersten Mal das bewusste Wahrnehmen dieser Muster,
da es wie ein Filter wirkt, der überflüssige Reaktionen hervorhebt.
Liegend lernt man Verspannungen leichter loszulassen
Das Liegen erlaubt, als ersten Schritt, ein allmähliches Ausschalten der Anspannung der Nackenmuskeln,
da diese als für die liegende Position überflüssig erkannt wird.
Das Nervensystem lernt zwischen dem Reiz des künstlichen Fußbodens und den vom Liegen
tatsächlich gestellten Anforderungen zu unterscheiden und sich den letzteren anzupassen,
trotz des Stehreizes.
Es findet eine erste Differenzierung statt, die später im wirklichen Stehen eine
weitere Differenzierung zwischen notwendigen und überflüssigen Muskelspannungen ermöglichen wird.
Als erste Folge der Entspannung der Nackenmuskulatur sinkt der Muskeltonus in den anderen beteiligten Muskelgruppen.
Darüber hinaus erhöht sich die kinästhetische Wahrnehmungsfähigkeit,
so dass das "Erkunden" der Komponenten eines Verhaltensmusters, der notwendigen und der parasitären,
am genauesten stattfinden und Automatismen durchbrochen werden können.
Das ist der Moment, in dem eine erhöhte Differenzierung im Nervensystem und
ontogenetisches Lernen stattfinden.
Während das Nervensystem am Anfang der Anwendung ausschließlich auf den zweiten der beiden Reize
Liegefläche (tatsächlicher Reiz) und künstlicher Fußboden (virtuelles Stehen) reagiert,
reagiert es am Ende der Behandlung vorwiegend und angemessen auf den ersten Reiz, den tatsächlichen,
und reduziert den zweiten Reiz auf die ihm in diesem Zusammenhang zustehenden Größe.
Man "reinigt" mit anderen Worten eine bestimmte Funktion von
individuell "erworbenen" parasitären Verhaltensmustern,
indem man diese Funktion unter Bedingungen hervorruft,
in denen sie noch nie in Anspruch genommen wurde,
wie hier das Stehen im Liegen.
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Luisa
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Durch das Ausschalten parasitärer Reaktionen im Liegen wird eine Art Alpha-Zustand erreicht,
aus der das Stehen neu erlernt werden kann.
Es werden jetzt ausschließlich die Muskelkontraktionen aktiviert,
die die Stehfunktion erfordert,
d. h. es wird das als Urfunktion im Nervensystem latent vorhande, ideale Stehverhaltensmuster aktiviert.
Im Nervensystem findet daraufhin eine erneute Einschätzung der tatsächlichen Anforderungen
der Stehfunktion und die Entwicklung angemessener Reaktionen statt.
Dies ist ein Lernprozess.
Eine weitere Differenzierung lässt sich dadurch erreichen,
dass einerseits Größe und Form des berührenden Gegenstandes variiert und
andererseits unterschiedliche Punkte oder Flächen berührt werden.
Je schmaler der Gegenstand, mit dem man die Fußsohle berührt,
desto schmaler ist die Fläche, auf der die Person virtuell "steht"
und umso differenzierter werden die geforderten und durch die Feldenkrais-Anwendungen
herausgearbeiteten Reaktionen des Nervensystems auf den Stimulus.
Es werden alle verfügbaren Variationen der Stehverhaltensmuster aktiviert,
von den primären, das bloße Aufrechtstehen sichernden
(für ein lädiertes Nervensystem bereits ein Meisterstück) bis hin zu den verfeinerten,
wie das Gehen auf einem Balken oder auf einem Seil.
Je differenzierter das Verhaltensmuster vom Nervensystem ausgeführt wird,
um so differenzierter müssen die vom Nervensystem gesendeten Impulse sein
und um so weniger parasitäre Komponenten haben in diesem Verhaltensmuster eine Überlebenschance.
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